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Ein Einwanderer mit hohen Qualifikationen kann einen oder zwei zusätzliche Einwanderer anziehen


ETH-Arbeitsmarktspezialist: «Ein sehr gut qualifizierter Zuwanderer zieht einen oder zwei weitere Zuwanderer nach»

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Die Schweiz muss sich auf eine jährliche Zuwanderung von 60 000 bis 80 000 Personen einstellen, bei guter Konjunktur auch mehr. Das sagt der ETH-Arbeitsmarktspezialist Michael Siegenthaler. Den Fachkräftemangel wird das nicht zum Verschwinden bringen – im Gegenteil.

Die Schweiz ist auf dem Weg zu einer Zehn-Millionen-Bevölkerung: Feierabend beim Bahnhof Stadelhofen.

Herr Siegenthaler, die Zuwanderung in die Schweiz ist ungebrochen hoch, letztes Jahr waren es netto 81 000 Personen. Wie kann es sein, dass pro Jahr Zehntausende Arbeitskräfte in die Schweiz kommen und die Klagen wegen des Fachkräftemangels nicht abnehmen?

In der Schweiz sind sehr viele Leute im erwerbsfähigen Alter bereits beschäftigt, die Arbeitslosigkeit ist tief. Wenn die Wirtschaft kräftig wächst, und das tut sie in der Schweiz erfreulicherweise oft seit 25 Jahren, dann wächst eben auch die Beschäftigung. Und das funktioniert nur mit Zuwanderung. Sonst wäre es nicht möglich gewesen, in den letzten 20 Jahren über 1,3 Millionen neue Stellen in der Schweiz zu besetzen. Das ist das Dreifache der Bevölkerung der Stadt Zürich.

Es ist also nicht so, dass die Zuwanderer die bestehenden Lücken auf dem Arbeitsmarkt füllen? Sie besetzen vielmehr neue Stellen?

Doch, sie füllen meist die Lücken. Aber dadurch, dass die Schweiz dynamisch wächst, werden auch wieder neue Lücken geschaffen, für die es weitere Leute braucht. Wir haben ein Beschäftigungswachstum, das zu mindestens zwei Dritteln durch Zuwanderung ermöglicht wird. Anders gesagt: Zwei von drei Stellen, die in der Schweiz neu geschaffen werden, werden von Zuwanderern besetzt. Und eine von drei wird durch eine bessere Ausschöpfung des inländischen Potenzials besetzt.

Die Zuwanderung ist also eine Art Selbstläufer. Weiss man, in welchem Ausmass sie durch die Zuwanderer selber angetrieben wird?

Der ETH-Ökonom Michael Siegenthaler

Die Leute, die der Arbeit wegen in die Schweiz kommen, sind zum Teil sehr gut qualifiziert, haben ein hohes Einkommen und geben entsprechend Geld aus. Sie wollen irgendwo wohnen, einkaufen, brauchen vielleicht Kinderbetreuung, einen Busfahrer und andere Dienstleistungen. Das heisst, der Prozess ist bis zu einem gewissen Grad selbstverstärkend. Es gibt Schätzungen, dass ein sehr gut qualifizierter Zuwanderer einen oder zwei weitere Zuwanderer nachzieht.

Das heisst: Die Zuwanderung, auch wenn sie noch so stark ist, wird das Problem mit dem Fachkräftemangel nicht lösen können.

Sie lindert zwar den Fachkräftemangel, führt aber gleichzeitig zu zusätzlichem Fachkräftemangel. Es ist eine Huhn-Ei-Frage. Die Zuwanderung ermöglicht, dass die Firmen weiterhin Stellen in der Schweiz schaffen können, was wiederum zu zusätzlicher Zuwanderung führt. Will man den Zuzug von Arbeitskräften substanziell bremsen, muss man bereit sein, das Beschäftigungswachstum zu bremsen. Das heisst, man muss die Firmen dazu bringen, dass sie künftig zum Beispiel im Ausland und nicht mehr in der Schweiz Jobs schaffen.

Es gibt Forderungen, man müsse die Erwerbsquote im Inland steigern, dann könne man die Zuwanderung bremsen. Wie realistisch ist das?

Die Erwerbsbeteiligung ist schon heute hoch und ist in den letzten Jahrzehnten ständig gestiegen. Es gibt zwar noch Potenzial bei den Frauen, genauer bei den Müttern, die häufig Teilzeit arbeiten. Auch bei den Älteren liesse sich die Erwerbsquote noch erhöhen, im internationalen Vergleich bleiben wenige Leute im Rentenalter dem Arbeitsmarkt erhalten. Gleichzeitig muss man sich bewusst sein: Je mehr die Schweiz eine Bildungsgesellschaft wird, desto länger dauert es, bis die Leute im Beruf richtig starten; die Erwerbsarbeit der Jungen dürfte also eher abnehmen. Zudem besteht mit zunehmendem Einkommen die Möglichkeit, dass man sich sagt: «Ich muss eigentlich nicht 100 Prozent arbeiten, statt 45 Stunden pro Woche reichen mir 30, damit komme ich gut durchs Leben.» Diesen Wohlstandseffekt gibt es auch, und der wird nicht verschwinden.

Ist die hohe Arbeitsmigration auf Ausnahmefaktoren – Stichwort lockere Geldpolitik – zurückzuführen, die irgendwann wieder verschwinden? Oder ist sie der Normalfall, und die Entwicklung wird im selben Tempo so weitergehen?

Die starke Zuwanderung dieses und des letzten Jahres ist zu einem wesentlichen Teil konjunkturell bedingt, das hatten wir seit der Zeit vor der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 nicht mehr. Neben dem Konjunktureffekt ist es aber durchaus so, dass die Schweiz strukturell eine Nettozuwanderung von 50 000 bis 70 000 Personen in die ausländische Wohnbevölkerung aufweist. Es kommen also auch viele Zuwanderer, wenn es wirtschaftlich nicht so gut läuft. Ich gehe zudem davon aus, dass die Zuwanderung wegen der Demografie noch weiter zunehmen wird. Es ist unwahrscheinlich, dass man für die Berufe, in denen die Babyboomer besonders übervertreten sind – etwa Lehrerinnen und Lehrer, Lokführer und Führungskräfte in verschiedenen Branchen –, in absehbarer Zeit einen technologischen Ersatz finden wird. Für diese Tätigkeiten braucht es Menschen.

Das heisst, es bleibt nicht bei einer «normalen» Zuwanderung von 50 000 bis 70 000 Personen, die Zahl wird darüber hinausgehen.

Ja, das könnte passieren, wir reden von 60 000 bis 80 000 ausländischen Personen. Je nach Konjunktur können es auch mehr sein. Aber in der Debatte werden immer etwas die Schweizerinnen und Schweizer vergessen: Sie wandern netto aus. In den letzten Jahren waren das jeweils rund 10 000 Personen. Auch sie müssen ersetzt werden.

Wie viel trägt der Familiennachzug zur Zuwanderung bei?

Knapp ein Drittel der Gesamtzuwanderung in der Schweiz geht auf den Familiennachzug zurück. Man weiss, dass bei Zugewanderten aus der EU die Partnerinnen und Partner oft gut in den Arbeitsmarkt integriert sind und relativ schnell eine Stelle finden.

Laut einzelnen Ökonomen war die Zuwanderung in gewissen Jahren gleichbedeutend mit dem Ausbau der Stäbe im Bildungs- und Gesundheitswesen. Ist die Zuwanderung ein Treiber für mehr Bürokratie und mehr Staat?

Dass mit der Zuwanderung die Bildung eines Bürokratiewasserkopfes ermöglicht wurde – das mag in Einzelfällen zutreffend sein, deckt sich aber nicht mit meinen Beobachtungen. Die Zuwanderung erfolgt in der Schweiz in viele verschiedene Branchen, darunter sind auch staatsnahe wie Bildung und Gesundheit. Das ist aber bei einer wachsenden und alternden Bevölkerung und einer Wissens- und Wohlstandsgesellschaft teilweise auch naheliegend und für sich noch kein Zeichen wachsender Bürokratie.

Was halten Sie von der These, dass Schweizer vorzugsweise im öffentlichen Bereich arbeiten, während Ausländer mehr in der Privatwirtschaft tätig sind?

Ich unterscheide in diesem Kontext nicht gerne Nationalitäten. Relevanter ist, ob man da lebt, wo man geboren wurde. «Ansässige» trifft es besser.

Dann also «Ansässige». Zieht es sie wegen der Zuwanderung vermehrt in die Verwaltung oder in staatsnahe Bereiche?

Wenn die Zuwanderung einen gewissen Druck auf die Arbeitsmarktsituation ausübt, kann es zu Ausweichbewegungen der Ansässigen kommen – etwa, indem sie Stellen im staatsnahen Bereich annehmen. Dort haben sie einen Wettbewerbsvorteil, etwa weil sie die Institutionen kennen oder Dialekt sprechen. Gleichzeitig arbeiten aber auch in der Privatwirtschaft noch immer sehr viele Ansässige. Die meisten Schülerinnen und Schüler absolvieren eine Berufslehre, die mehrheitlich zu Beschäftigungen in der Privatwirtschaft führt. Allgemein lässt sich sagen, dass sich die Zuwanderung in der Schweiz, trotz dem grossen Ausmass, im Schnitt nicht negativ auf den Arbeitsmarkt und die Situation der Ansässigen ausgewirkt hat.

Gewisse Ökonomen sind der Meinung, dass die Schweizer wegen der Zuwanderung fett und träge werden und sich in ihre Teilzeitstellen zurückziehen.

Das trifft so nicht zu. Die Zunahme der Teilzeitarbeit kommt auch zustande, weil Mütter, die früher oft gar nicht erwerbstätig waren, nun vermehrt in tiefen Pensen arbeiten, während Väter ihr Erwerbspensum etwas reduzieren. In der ganzen Teilzeitdebatte wird wenig auf die Haushaltsarbeitszeit geschaut. Diese ist gemäss ersten Auswertungen unsererseits nicht wesentlich zurückgegangen, was zum Teil daran liegt, dass der Staat bei der Kinderbetreuung nicht einspringt und die Eltern diese Aufgabe oft selber übernehmen.

Und wie sieht es allein mit der Erwerbsarbeit aus, ohne die Zeit, die für den Haushalt und die Familie aufgewendet wird?

Insgesamt nimmt die Erwerbsarbeitszeit trendmässig etwas ab. Bei den Frauen nimmt sie zu, bei den Männern leicht ab. Es findet also eine Verlagerung unter den Geschlechtern statt. Daraus kann man nicht auf eine Zunahme der Faulheit schliessen. Vielleicht hätten frühere Generationen auch gerne weniger gearbeitet – sie konnten es sich aber einfach nicht leisten.

Gibt es einen Unterschied zwischen Ansässigen und Zugewanderten, was die Teilzeit angeht?

Unter den Ansässigen hat es wegen der Teilzeitkultur, die im Ausland nicht so verbreitet ist, einen vergleichsweise höheren Anteil an Teilzeitbeschäftigten. Im letzten Jahr haben rund 40 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer Teilzeit gearbeitet, bei den Zugewanderten aus der EU waren es hingegen nur 25 Prozent.

Existiert eine Gesamtkostenrechnung zur Zuwanderung? Lässt sich abschätzen, was die Zuwanderung an Steuereinnahmen bringt und welche Kosten sie verursacht – Bahnausbau, Stauzeit, Bodenpreise?

Eine solche Kosten-Nutzen-Rechnung könnte immer nur ein bruchstückhaftes Bild wiedergeben. Zugewanderte zahlen beispielsweise, weil sie oft jung sind und mit einer Stelle in die Schweiz kommen, überproportional in die Sozialversicherungen ein. Je nachdem, ob sie bleiben, beziehen sie in zwanzig, dreissig Jahren aber auch AHV-Rente und möglicherweise andere Sozialleistungen. Man müsste also eine ganze Lebenszyklusbetrachtung machen. Viele mögliche Kosten sind auch schwer zu messen, etwa dass sich einige Ansässige durch die Zuwanderung bedroht fühlen. Das gilt auch für den volkswirtschaftlichen Nutzen: Es kann sein, dass unter den 80 000 Zuwanderern zwei, drei Dutzend sehr gescheite Köpfe sind, die bei einer der Basler Pharmafirmen ein neues Patent entwickeln, das zu einem riesigen Zuwachs an Wertschöpfung und Steuern führt. Kurz: Eine solche Rechnung lässt sich wissenschaftlich nicht machen.

Sie haben die AHV erwähnt. Die Zuwanderer werden dereinst ihre Altersrente beziehen wollen, und um das zu finanzieren, braucht es ja dann laufend noch sehr viel mehr Zuwanderung – ein Schneeballsystem.

In der Tat: Die gegenwärtige Situation hilft uns, die Probleme bei der Finanzierung der AHV länger auf die Bank zu schieben, als wir es sonst könnten. Aber dieser Effekt ist ja kein geplantes Manöver, sondern nur eine erfreuliche Nebenwirkung der Zuwanderung. Wenn die Zuwanderung zurückgeht oder gebremst wird, wird der Druck, die AHV zu reformieren, mittelfristig zunehmen.

Gibt es für Sie einen Kipppunkt, wo auch Sie sagen: Jetzt überwiegen bei der Zuwanderung nicht mehr die Vorteile, sondern die Nachteile?

Ich persönlich betrachte die Thematik nicht allein aus der Perspektive der Ansässigen. Ich sehe es als Vorteil, wenn jemand aus Portugal oder Spanien in die Schweiz kommt und sich wirtschaftlich besserstellen kann. Aber es ist klar: Die Zuwanderung ist für die ansässige Bevölkerung mit Kosten verbunden, zum Teil auch gefühlten Kosten, die wahrscheinlich sogar wichtiger sind als die ökonomischen Kosten. Man fühlt sich weggedrängt vom Arbeitsmarkt, das Wohnen wird teurer. Bei einer starken und schnellen Zuwanderung sind diese Kosten grösser, weil die Nebenwirkungen grösser sind, etwa auf dem Wohnungsmarkt. Die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative legt nahe, dass es für die Bevölkerung zu schnell gehen kann. Aber ich glaube nicht, dass wir wissenschaftlich wüssten, wann dieser Zeitpunkt erreicht wird.

Der Ökonom Reiner Eichenberger schlägt vor, dass Neuzuwanderer eine Abgabe leisten sollen nach dem Modell «Kurtaxe», das wirke dämpfend.

Ob ein solches Modell funktionieren würde, ist unklar, das hat noch niemand ausprobiert. Wenn man die Zuwanderung steuern möchte, sollte man meines Erachtens auf Firmen zielen, die mit ihren Anstellungsentscheiden die Zuwanderung verursachen.

Die Unternehmen sollen die Jobs zu den Leuten bringen statt die Leute zu den Jobs.

Man müsste die Ursache bekämpfen, und die Ursache ist das Beschäftigungswachstum in der Schweiz. Doch jede einschränkende Massnahme bei der Personenfreizügigkeit birgt die Gefahr, sich auf das Verhältnis der Schweiz zur EU negativ auszuwirken. Der Wohlstand der Schweiz hängt wesentlich von den bilateralen Verträgen ab, eine Lenkung der Zuwanderung sollte sie nicht infrage stellen.

Als wie widerstandsfähig beurteilen Sie den Schweizer Arbeitsmarkt, sollte die Wirtschaft ernsthaft einbrechen?

Wir haben seit den 1990er Jahren Wirtschaftskrisen meist gut überstanden, besser, als das in vielen anderen Ländern der Fall war. Ein Grund liegt sicher im Bevölkerungswachstum: Wir hatten auch während der Krisen eine stetig wachsende Nachfrage im Inland, und das stützte die Wirtschaft. Nehmen wir den Detailhandel: Obwohl Migros und Coop die Preise senken mussten, konnten sie den Umsatz halten und damit auch die Beschäftigung, weil immer mehr Leute in der Schweiz lebten und einkaufen mussten. Anders gesagt: Die Zuwanderung trägt zur Resilienz bei. Es gibt noch andere Gründe, warum die Schweizer Wirtschaft resilient ist. So sind viele Branchen, die sensitiv gegenüber Konjunkturschwankungen waren, wegen des starken Frankens schon längst verschwunden.

Die Wachstumsaussichten sind leicht getrübt. Auf wen wirkt sich die Abkühlung des Arbeitsmarktes erfahrungsgemäss zuerst aus?

Es sind typischerweise temporär Beschäftigte und Leute, die ihren Job erst vor kurzem angefangen haben. Sie verlieren ihre Stelle am ehesten. Auch die Jungen sind anfänglich wesentlich stärker von einer Wirtschaftskrise betroffen als der Rest. Schwierig ist es auch für Stellensuchende, weil viele Firmen Einstellungsstopps verhängen, bevor sie Mitarbeiter entlassen. Auch Zugewanderte haben mehr Probleme als länger Ansässige, sie arbeiten überdurchschnittlich häufig in konjunktursensitiven Branchen wie dem Tourismus oder der Exportindustrie. Früher war es so, dass viele Ausländerinnen und Ausländer bei einem Konjunktureinbruch das Land verlassen haben, sie waren eine Art Konjunkturpuffer. Dieser Effekt ist immer noch da, wenn auch in viel geringerem Ausmass.

Michael Siegenthaler ist Wirtschaftswissenschafter und Arbeitsmarktspezialist. Der 38-Jährige stammt aus Niederhünigen im Kanton Bern, hat in Bern und Zürich studiert und leitet seit 2019 den Forschungsbereich Schweizer Arbeitsmarkt bei der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich.

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Author: Dillon Lowe

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